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Stell dir vor: ein Klavier. Die Tasten fangen an. Die Tasten hören auf. Du weißt, dass es achtundachtzig sind, da kann dir keiner was vormachen.
Sie sind nicht unendlich. Du bist unendlich, und in diesen Tasten ist die Musik unendlich, die du machen kannst.
Sie sind achtundachtzig. Du bist unendlich. Das gefällt mir. Damit kann man leben. Aber wenn du ...
Aber wenn ich auf diesen Steg gehe, und vor mir ...
Aber wenn ich auf diesen Steg gehe, und vor mir erstreckt sich eine Klaviatur von Millionen Tasten, Millionen und Abermillionen Millionen und Abermillionen Tasten, die überhaupt kein Ende nehmen, und wenn diese Klaviatur unendlich ist ...
Wenn diese Klaviatur unendlich ist, dann gibt es auf dieser Klaviatur keine Musik, die du spielen kannst. Du hast dich auf den falschen Hocker gesetzt:
Das ist das Klavier, auf dem Gott spielt.


Auf einem luxuriösen Passagierdampfer, der zwischen Europa und Amerika hin- und herpendelt, wird ein neugeborenes Baby gefunden, das in in einem Zitronenkistchen auf dem Flügel im Ballsaal der Ersten Klasse liegt. Die Matrosen, die es finden, geben ihm den Namen seines Geburtsjahres

Novecento
Neunzehnhundert


Novecento wird von Danny Boodman, einem Schwarzen, einem Kerl wie ein Schrank, adoptiert. Mit acht Jahren wird er erneut Waise. Als er sich als achtjähriger Junge einfach an das Klavier setzt, weiß keiner, woher er das Spielen gelernt hat. Seit diesem Zeitpunkt verzaubert er alle mit seiner wunderbaren Musik, die einen seltsamen Zauber ausübt auf alle, die sie hören.

Aus dem Klavier kommen Töne. Die Tasten scheinen seit jeher auf diese Töne zu warten. Es sind Töne aus dem Jenseits. Alles ist darin enthalten: alles auf einmal, alle Melodien der Welt.



Ellen Seidel

Novecento, warum in Gottes Namen gehst du nicht mal von Bord, nur ein einziges Mal? Warum siehst du sie dir nicht mal an, die Welt, mit eigenen Augen, wirklich mit deinen? Warum bleibst du immer in diesem schwimmenden Gefängnis?


Seit 27 Jahren kommt die Welt auf dieses Schiff.
Und seit 27 Jahren spioniert Novecento diese Welt aus auf diesem Schiff. Und stiehlt ihr die Seele.
Darin ist er genial. Er kann zuhören. Und er kann lesen. Nicht nur Bücher, das ist ja keine Kunst.
Er kann Menschen lesen. Die Zeichen, die sie mit sich herumtragen: Orte, Geräusche, Gerüche, ihr Land, ihre Geschichte. Alles ist ihnen auf den Leib geschrieben.
Er liest also, und mit grenzenloser Sorgfalt katalogisiert, sortiert und ordnet er. Tag für Tag fügt er der unermesslichen Karte, die sich in seinem Kopf abzeichnet, ein Stückchen dazu, der unermesslichen Karte der Welt, der ganzen Welt, von einem Ende zum andern, riesige Städte, lange Flüsse, Flugzeuge, Kaffeehausnischen, eine wunderbare Karte.
Er reist himmlisch auf ihr, während seine Finger über die Tasten gleiten und die Kurven eines Walzers streicheln.



Karin und Richard Büttner

Nur ein einziges Mal unternimmt Novecento einen Versuch, an Land zu gehen. Auf der dritten Stufe aber kehrt er wieder um. Seit diesem Zeitpunkt bleibt Novecento auf diesem Schiff, auf dem er geboren wurde.
Erst am Ende seiner Geschichte erzählt er seinem Freund, dem Trompeter, warum er es nicht geschafft hat, von Bord zu gehen.

Diese ganze Stadt ... ich konnte ihr Ende nicht sehen. Das Ende - bitte sehr, könnte ich mal das Ende sehen? Auf diesem gottverdammten Steg ... war alles sehr schön, ich hatte keine Bedenken, es war totsicher, dass ich von Bord gehen würde, es gab da überhaupt kein Problem.
Erste Stufe, zweite Stufe, dritte Stufe
Du lieber Himmel, hast du die Straßen gesehen? Schon allein die Straßen, Tausende gibt es davon, wie schafft ihr es da draußen bloß, euch eine auszusuchen? Euch eine Frau auszusuchen, ein Haus, ein Stück Land, diese ganze Welt, von der man nicht mal weiß, wo sie aufhört. Habt ihr denn nie Angst, wenn ihr nur daran denkt. Und in ihr zu leben ...
Erste Stufe, zweite Stufe
Nicht das, was ich sah, hielt mich zurück, sondern das, was ich nicht sah.
Kannst du das verstehen? Das, was ich nicht sah ... ich suchte es, aber es war nicht da. In dieser ganzen grenzenlosen Stadt gab es alles außer ... es gab alles.
Aber es gab kein Ende. Ich konnte es nicht sehen, wo das alles aufhörte. Das Ende der Welt.
Ich bin auf diesem Schiff geboren. Und hier kam die Welt vorbei, aber immer nur 2000 Leute auf einmal. Und Wünsche gab es auch hier, aber nicht mehr als zwischen einem Bug und einem Heck Platz haben. Man spielte sein Glück auf einer Klaviatur, die nicht unendlich war.
So habe ich es gelernt. Das Land ist ein Schiff, das zu groß für mich ist. Es ist eine zu lange Reise. Es ist eine zu schöne Frau. Es ist ein zu starkes Parfum. Es ist eine Musik, die ich nicht spielen kann.
Verzeih mir. Aber ich werde nicht von Bord gehen. Lass mich hier zurück. Bitte.




 
   
 
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